Transformative Gerechtigkeit (engl. transformative justice) oder kollektive/gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme (engl. community accountability) ist eine Methode, um Übergriffe und verletztendes sowie diskriminierendes Verhalten in unserer Gemeinschaft anzugehen und mit allen Involvierten zusammen zu arbeiten.
Wir können vereinfacht von 3 Ebenen sprechen, die in einem solchen Prozess wichtig sind:
1) Person, die einen Übergriff erlebt haben (=betroffene Person)
2) Person, die den Übergriff verursacht haben (=übergriffige Person)
3) die der Gemeinschaft oder Community, in der wir uns befinden und/oder in dem der Übergriff stattgefunden hat
Transformative Gerechtigkeit oder gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme dreht sich also nicht um zwei oder mehrere Einzelpersonen, die Gewalt erlebt und/oder ausgeübt haben, sondern beschäftigt sich auch mit den Strukturen, den Umständen in der Gemeinschaft oder Welt, die einen solchen Übergriff überhaupt ermöglicht haben. Tranformativ ist dieser Prozess in dem Sinn, dass er Veränderungen anstösst und umsetzt.
Die Konzepte von transformativer Gerechtigkeit beziehungsweise gemeinschaftlicher Verantwortungsübernahme, auf die wir uns stützen, basieren auf den Erfahrungen und der Geschichte verschiedener sozialer Bewegungen in den USA (siehe unten). Sie wurden hauptsächlich von cis und trans Frauen of Colour in den 1990er Jahren entwickelt. Deren Konzepte wiederum beruhen auf Modellen von indigenen Communities in Nordamerika oder Neuseeland (first nations, Maori, etc.). Für diese Gemeinschaften war es im Konfliktfall nicht möglich, die Polizei zu rufen. Die Polizei war und ist gefährlich für sie. So mussten sie sich andere Methoden ausdenken, um im Fall von Übergriffen Gerechtigkeit zu schaffen. Die gemeinschaftlichen Verantwortungsübernahme funktioniert ganz anders als staatliche Rechts- oder Unrechtssysteme, welche die institutionell verankerten Unterdrückungsmechanismen reproduzieren. Die Form der gemeinschaftlichen Verantwortungsübernahme ist und war immer schon intersektional, d.h. ist sich der unterschiedlichen Formen von Unterdrückung, wie z.B. Sexismus, Rassismus, Ableismus, und ihrem Zusammenwirken bewusst.
Im Folgenden findet ihr ein Text, der grösstenteils aus dem lesenswerter Artikel von Melanie Brazzell in der Luxemburg Zeitschrift stammt. Den ganze Artikel findest du hier.
Aus ihrer Theorie und Praxis ist in den letzten 20 Jahren eine Bewegung erwachsen, die Alternativen entwickelt hat, um mit sexualisierter und Partner*innen Gewalt umzugehen. Sie gruppiert sich um die Begriffe Community Accountability (übersetzt etwa: kollektive Verantwortungsübernahme) und Transformative Justice (auf Verhaltensänderung zielende Gerechtigkeit). INCITE!, ein Netzwerk radikaler Feminist*innen of Color, das eine Vorreiter*innenrolle in dieser Bewegung innehat, beschreibt die vier Grundpfeiler so:
a) kollektive Unterstützung, Sicherheit und Selbstbestimmung für betroffene Personen;
b) Verantwortung und Verhaltensänderung der gewaltausübenden Person;
c) Entwicklung der Community hin zu Werten und Praktiken, die gegen Gewalt und Unterdrückung gerichtet sind;
d) strukturelle, politische Veränderungen der Bedingungen, die Gewalt ermöglichen.
In unserer Gesellschaft werden sexualisierte Gewalt wie auch Rassismus oder Homophobie in erster Linie als ein individuelles, affektives Problem (motiviert durch „Hass“) und weniger als weitverbreitete gesellschaftliche, institutionalisierte Phänomene wahrgenommen. Der transformative Ansatz erkennt Gewalt hingegen als systematisches Problem an. Gewalt wird oft von Personen verübt, die selbst Isolation, Gewalt oder persönliche Brüche erlebt haben (dies bietet eine Erklärung, aber keine Entschuldigung für Gewalt.) Aber der Ausschluss einer gewalttätigen Person ändert nichts an den systemischen Wurzeln von Gewalt. Soziale Beziehungen sind ein Teil der Lösung: Beziehungen, die eine kritische Auseinandersetzung fordern und fördern. Das Konzept der transformativen Gerechtigkeit hat hingegen ein neues Verständnis von Gerechtigkeit und Sicherheit. Die Verantwortung für Gewalt wird nicht als individuelle, sondern als kollektive Aufgabe betrachtet. Daraus folgt, dass der gewaltausübenden Person Möglichkeiten zur Verhaltensänderung angeboten werden, anstatt sie, der Gefängnislogik folgend, als ein paar „faule Äpfel“ zu bestrafen und auszustossen.
Gleichzeitig wird das Umfeld mobilisiert, um die von Gewalt betroffene Person zu unterstützen. Da sich sexualisierter Gewalt am häufigsten im bekannten Umfeld oder innerhalb der Familie ereignet, haben betroffene Personen über die Tat hinaus oft mit komplizierten Beziehungsgeflechten zu kämpfen, die nicht mithilfe eines Gerichtsverfahrens oder Kontaktverbots gelöst werden können. Oft fehlt für den Umgang mit dieser Gewalt das Wissen und Können in Communities, besonders bei den Leuten, die sehr nah an der gewaltausübenden Person sind. Eine eigene Auseinandersetzung mit Gewalt und mit der Idee, dass eine wichtige Person im eigenen Leben Gewalt ausüben kann, muss eigentlich vor einer Krisensituation passieren. Jedes Konzept von Gerechtigkeit kann wiederum auch gegen von Gewalt betroffene Menschen genutzt werden – es geht daher um eine ständige Auseinandersetzung mit der gelebten Praxis. Es müssen zuerst verantwortungsbewusste Communities gebildet werden. Von welcher Verantwortung sprechen wir also, und wie kann diese erfolgreich übernommen werden? Die Initiative Creative Interventions definiert dies so: Gewalt beenden; Gewalt und ihre Konsequenzen ohne Wenn und Aber anerkennen; Entschädigung für die betroffene Person; das Verändern von schädigenden Einstellungen und Verhaltensweisen, so dass Gewalt nicht wiederholt wird; und auch die Entwicklung der Community. Wenn wir daran arbeiten, ehrliche und stabile Beziehungen und einen Sinn für die Community mit gemeinsamen Werten und Visionen zu schaffen, sind wir für den Umgang mit Gewalt besser gerüstet – und müssen uns bei erlebter Gewalt nicht mehr auf den Staat verlassen.
Während professionelle Beratungsstellen oft lediglich individuelle Lösungen anbieten, haben Communities weiter den Vorteil, kollektive und alltägliche Unterstützung organisieren zu können. So bleibt keine betroffene Person allein, und es wird deutlich, dass Gewalt alle betrifft, wenn auch auf verschiedene Weise. Es kommt vor allem darauf an, die von Gewalt Betroffenen zu ermächtigen und nicht so sehr, sie zu beschützen. Transformative-Justice-Ansätze helfen Betroffenen, sich gemeinsam mit Verbündeten die eigene Selbstbestimmung zurückzuerobern (statt als Machtlose Schutz von aussen zu suchen). Diesen Strategien liegt die Annahme zugrunde, dass Betroffene von Gewalttaten über umfangreiches Wissen und Fähigkeiten verfügen, die sie zu potenziellen Akteur*innen sowohl der eigenen als auch gesellschaftlicher Veränderung macht.
Ganz im Gegensatz dazu verkauft uns die Logik von Staat und Gefängnissen Sicherheit als Verwahrung der Gefahr (hinter Grenzen, Mauern und in Gefängnissen), oder sie isoliert die Gefährdeten (z.B. in Frauenhäusern). In linken Kontexten wird häufig von „Schutzräumen“ fantasiert, in denen niemals etwas Schlimmes geschieht. Aber wäre es nicht viel besser, die Verhältnisse anzugreifen, die für sexualisierte Gewalt und Übergriffe verantwortlich sind, anstatt zu versuchen, die gewaltausübende oder gar die betroffene Person innerhalb der Gesellschaft zu isolieren? Diese Auffassung würde Sicherheit als eine Art Werkzeugkasten für Selbstbestimmung verstehen, nicht als geschlossenen Raum.